Eine erschreckende Feststellung machte die Verantwortliche für das Landesprogramm Haiti, Romana Büchel, auf ihrer jüngsten Projektreise: Die Menschen auf der Karibikinsel waren sehr viel magerer als bei früheren Besuchen . In den Zeitungen gab es nur ein Thema: „La vie chère“ Die immer weiter in die Höhe kletternden Preise für Reis, Brot und andere Grundnahrungsmittel. Nun ist die Situation eskaliert: Der Hunger hat die Menschen auf die Strasse getrieben.
Rund um den Globus mehren sich die Proteste: Burkina Faso, China, Ägypten, Haiti. Überall führt die Hausse der Nahrungsmittelpreise zu Unruhen und Krawallen. Auf einmal wird ein Sack Reis zu einem Luxusgut.
Für die Preishausse gibt es verschiedene Auslöser: Da ist einerseits der steigende Lebensstandard beispielsweise in Asien: Wegen des höheren Fleischkonsums wird noch mehr Anbaufläche für Futtermittelproduktion genutzt. Zudem erleben die Agrotreibstoffe einen wahren Boom. Diese erhöhte Nachfrage vermag die verbesserte Landwirtschaftsproduktion nur teilweise zu befriedigen. Dadurch sind die weltweiten Getreidevorräte auf ein Jahrzehnttief geschrumpft.
Die Menschen in Haiti, Ägypten und Burkina Faso sind aber letztlich auch Opfer der Hypothekenkrise in den USA. Etliche Anleger haben das Vertrauen in die Aktienbörsen verloren und investieren nun ihr Geld im Rohstoffhandel. Dadurch werden Nahrungsmittel zu Spekulationsobjekten und die Preise klettern in die Höhe.
Den Preisanstieg nehmen nicht alle Menschen gleich wahr: Während der Mitteleuropäer rund 15% des Einkommens für Nahrungsmittel ausgibt, beträgt dieser Anteil bei den ärmsten Familie in Afrika, Asien oder Lateinamerika über 75% des Haushaltsbudgets. Da reisst eine Preissteigerung von 40% ein riesiges Loch ins Portemonnaie.
Die ärmsten Familien haben kaum Reserven. Deshalb bleiben nun vielerorts die Teller leer. Neben dem Hunger macht sich auch Frustration und Ohnmacht breit. Neu ist, dass neben den Ärmsten, die bereits länger unter Hunger leiden, auch die unteren Mittelschichten mit dem Hunger Bekanntschaft machen. Diese sind aber – im Gegensatz zur untersten Bevölkerungsschicht – politisch interessiert und auch teilweise organisiert. Die Unruhen sind die logische Konsequenz.
Kleinbauernbetriebe und nachhaltiger Anbau für bessere Versorgung
Jetzt rächt sich, dass einige Länder die längst versprochenen Agrar- und Bodenreformen nicht angegangen sind. Die Menschen auf dem Land brauchen Zugang zu Boden. Nach wie vor sichern sich Grossgrundbesitzer die ertragreichsten Landflächen. Dort wird entweder Tierfutter, Agrotreibstoff oder für den Export produziert. Da bleibt immer weniger Platz für Kleinbauernfamilien.
Die Zukunft liegt aber bei kleinen, naturnahen Betrieben und nicht bei der grossflächigen Landwirtschaftsindustrie. Zu dieser Einsicht kam diese Woche auch der UN-Landwirtschaftsrat in Johannesburg. Kleinbäuerliche Betriebe und die lokale Produktion vermögen auch schwierige Situationen erfolgreich zu überbrücken.
Zwei Beispiele: im Norden von Burkina Faso reden die Menschen von der Zeit der Soudure, der Zeit der Knappheit. Es sind die Monate, in denen die Vorräte aufgebraucht sind, die neue Ernte aber noch nicht bereit ist. In dieser Zeit essen viele Menschen nicht einmal jeden Tag eine volle Mahlzeit. Mittels einer traditionellen, ökologisch nachhaltigen Pflanzlochtechnik – Zaï genannt – konnten Dorfgruppen den Hirseertrag mehr als verdreifachen. Dies einzig mit verbesserter Anbautechnik und lokal hergestelltem Kompost. Das Fastenopfer unterstützt die Dorfgemeinschaften bei der Weiterbildung und schult sie auch bei der Verwaltung der Ernteerträge. So kann die Zeit der Soudure auf weniger als einen Drittel vermindert werden.
Ein anderes Beispiel aus dem Senegal: Ein Solidaritätsprogramm von Bauerngemeinschaften vermochte die Folgen einer Heuschreckenplage vor drei Jahren zu mildern. Aktive Bauerngruppen hatten ihre Ernte und Lagerhaltung soweit verbessert, dass sie imstande waren, anderen Dorfgemeinschaften Reis auszuleihen.
Diese beiden Beispiele zeigen: Nachhaltige Anbaumethoden und Solidarität können helfen, schwierige Situationen zu meistern. Und sie verhindern Spekulationen im grossen Stil. Die Preise bleiben stabil und auf den lokalen Märkten besser kontrollierbar. 
Hungergespenst Agrotreibstoff
Die Bedeutung solcher Lösungsansätze erkennt man nur schon daran, dass über die Hälfte aller Hungernden weltweit auf dem Land leben und selber Nahrungsmittel anbaut. Und fast ein Viertel aller Hungernden lebt in Indien, einem Land das immer noch Lebensmittel exportiert. Somit ist Hunger nicht eine Folge fehlender Nahrungsmittel, sondern ein Problem des Zugangs. Lokale, kleinbäuerliche Produktion bedeutet vor allem auch für ärmere Schichten eine sicherere Nahrungsmittelversorgung. Denn die Regale der Lebensmittelläden sind weiterhin gut bestückt, nur leisten kann es sich von den unteren Bevölkerungsschichten kaum noch jemand.
850 Millionen Menschen leiden an Hunger. Das Hungergespenst trägt neuerdings keine Sense mehr mit sich, sondern eher einen Kanister mit Agrotreibstoff. Der Inhalt lässt sich nicht konsumieren, wie die Landlosen in Brasilien immer wieder skandieren. So stehen auf einmal Klimaschutz und Hungerbekämpfung einander gegenüber. Das moralische Dilemma ist sichtbar. Ist es ethisch vertretbar, ganze Regionen unserem Mobilitäts-Wahn zu opfern und die mögliche Nahrungsmittelproduktion zu vernachlässigen? Die Antwort ist klar: Mais gehört auf den Teller, nicht in den Kanister.