Jochen Kirsch, warum setzt sich mission 21 gerade im Nordosten Nigerias ein, der hier vor allem für die Auseinandersetzungen zwischen christlichen und muslimischen Bevölkerungsgruppen in Jos bekannt wurde?
Mit unserer Partnerkirche dort, der "Kirche der Geschwister in Nigeria", sind wir seit über 50 Jahren verbunden. Ausdrücklich "Friedenskirche" benannt, engagiert sie sich seit je in der ländlichen Entwicklung, in der Bildung, im Gesundheitswesen und bei marginalisierten Gruppen wie z.B. den Frauen, die in dieser patriarchalen Gesellschaft an den Rand gedrängt sind. Bei der Arbeit wird nicht unterschieden, ob sie Christen oder Muslime zugute kommt. Sei den 90er Jahren gibt es auch ein spezifisches Friedensprogramm, das Netzwerke zwischen christlichen und muslimischen Gemeinden zu knüpfen sucht und Konfliktbearbeitung und -prävention einübt. Ein weiteres interreligiöses Programm zur Friedensförderung wird nun nicht ausschliesslich von Christen geleitet, sondern von Anfang an mit Muslimen gemeinsam geplant und verantwortet.

Es wird immer wieder gesagt, dass die Gründe für die gewaltsamen Zusammenstösse nicht in den religiösen Bekenntnissen lägen. Was sind denn unterschwellige Ursachen der Konflikte?
Man muss das differenzieren. In Jos handelt es sich im wesentlichen um die Fortsetzung eines schon seit fast 20 Jahren andauernden und in immer kürzeren Abständen ausbrechenden Konflikts zwischen den überwiegend christlichen Ureinwohnern und überwiegend muslimischen Migrantinnen und Migranten aus dem Norden. Im Zuge des wirtschaftlichen Niedergangs des Nordens, des Vorrückens der Wüste und zunehmend knapper, ausgelaugter Böden ziehen sie nun schon seit vielen Jahren nach Süden – unter anderem ins fruchtbare Jos – und es kommt zum Streit um Land und um Arbeit, aber auch um Bürgerrechte wie das volle Wahlrecht, das gemäss Verfassung nur Ureinwohnern zusteht.
Es ist also zunächst ein politisch, nicht religiös gearteter Konflikt, der aber von den verantwortlichen Politikern (Christen wie Muslimen) aus verschiedenen Gründen über die Jahre nie angegangen wurde, sodass er immer weiter läuft und immer weiter eskaliert. Die Täter ebenso wie die Leidtragenden und "Verfolgten" sind in gleicher Weise Christen wie Muslime.

Gibt es weitere Facetten des Konflikts?
Aufgrund der Ölfunde und der Ölförderung im Süden hat die Regierung die traditionell landwirtschaftlich ausgerichtete nationale Wirtschaft umgepolt auf eine Industrie- und Dienstleistungsökonomie, die sich auf das Öl abstützt. Die Landwirtschaft wurde dagegen zunehmend vernachlässigt. Diese "moderne" Wirtschaft findet aber vor allem im Süden statt, während der nach wie vor landwirtschaftlich geprägte Norden immer mehr ins Hintertreffen gerät. Der Niedergang der Landswirtschaft im Zusammenhang mit diesem ökonomischen Umbau hat allerorts zur Mangelversorgung der Bevölkerung geführt, im Norden zusätzlich zu Einkommensverlusten. Wo es früher noch riesige Berge von Erdnüssen gab, existiert heute kaum noch Handel damit. Im Gegenteil: Nahrungsmittel müssen importiert werden. Das sind nicht alles interreligiöse Konflikte! Man findet mit dieser Erklärung keine sachgerechten Lösungen und wird den Menschen nicht gerecht.

Sind es denn vor allem Verteilungskämpfe?
Nicht nur, an manchen Orten steht anderes im Vordergrund: Da waren etwa die  beiden Bombenanschläge in Abuja sowie die Bombendrohung in der Industriemetropole Lagos in Südnigeria. Sie stehen im Zusammenhang mit den Vorwahlen und anderen Vorbereitungen zu den Gouverneurs- und Präsidentschaftswahlen im April. Hier geht es darum, mit der Stiftung von Angst und Terror den politischen Gegner als möglichst handlungsunfähig und sich selbst als bestmögliche Alternative darzustellen. Letztlich ist es dabei egal, welcher Religion die unmittelbaren Opfer solchen Terrors sind. Entscheidend ist, an welcher Stelle zum Schluss auf dem Wahlzettel das Kreuzchen steht.

In Maiduguri im Bundesstaat Borno geht es wieder um etwas ganz anders. Es gilt die Scharia und man kann hier am ehesten noch von einer systematischen Benachteiligung von Christen sprechen, z.B. im Zugang zu Bildung, zu Gesundheit, zu höheren Stellen im Staatsdienst oder auch in der Genehmigung zum Bau einer Kirche.
Hintergrund der aktuellen gewaltsamen Konflikte von 2009 jedoch sind die Aktivitäten einer islamistischen Sekte: Boko Haram (zu Deutsch: „Bildung ist Sünde“). Ihr ist die Auslegung der Scharia im Norden zu lasch. Sie sieht in der westlich geprägten Bildung und Kultur das Grundübel für das hohe Mass an Korruption und den gesellschaftlichen Niedergang Nigerias – obwohl ihre Anführer zum Teil sehr gebildet sind. Und insofern wendet sie sich nicht nur gegen Christen, sondern zuerst und in viel höherem Masse gegen den Staat (Schulen, Behörden, Polizei) sowie gegen gemässigtere Muslime, die die harte Linie der Sekte nicht mittragen. So waren auch die meisten Opfer in Maiduguri bislang Muslime (nicht zuletzt die von Polizei und Militär getöteten Anhänger der Sekte selbst) und nicht Christen.
Boko Haram sieht sich als Speerspitze des Islams uns wird als solche auch von islamistischen Kreisen gefördert. Nach den letzten verheerenden Unruhen konnte ich das zerstörte Zentrum von Boko Haram besichtigen. Ich bin über die noch schwelenden Trümmer gestiegen und sah, welch riesige Infrastruktur die Organisation besass, ausgelegt sowohl auf Verteidigung wie auch auf Angriff: hochentwickelte Waffen, Sprengstoff, Fahrzeugpark, Nahrungsmittellager. Auch ein grosses Bankkonto soll ihnen zur Verfügung stehen! Das alles kann nicht unbesehen zusammen kommen. Der Führer dieser Sekte konnte dieses Zentrum nur aufbauen, weil mächtige Hände ihm den Segen gegeben haben.

Nigerianische Hände?
Es gibt sowohl nigerianische als auch internationale Förderer. Sicherheitskräfte wussten, dass Kämpfer ausgebildet wurden, auch im Ausland. Waffenschmuggel über die Grenze und innerhalb des Landes ist einfach. Es gibt zwar viele Strassenkontrollen, aber gegen ein Trinkgeld lässt die Polizei alles passieren. Wenn es gewissen politischen Interessen dient, ist der Aufbau solcher Machtzentren möglich: Es gibt durchaus Verknüpfungen zu Politikern.

Sind die Kämpfe zwischen Christen und Muslimen im Norden also lokale Spiegelbilder des Machtgerangels zwischen Politikern des Nordens und des Südens?
Die weitverbreitete Armut ist gepaart mit einer sehr schwachen Demokratie, in der das Parlament wenig Einfluss hat. Somit müssen politische Interessengruppen versuchen, sich über Seilschaften Gewicht zu verschaffen, die bis in die obersten Machtgefilde reichen. Die sachlichen Konflikte werden zu Vehikeln politischer Machtinteressen. Ein weiterer Punkt ist die Scharia: Just zu dem Zeitpunkt, als in Nigeria zum ersten Mal nach wechselnden Militärdiktaturen wieder ein ziviler Präsident gewählt wurde (ein Christ aus dem Süden) haben bestimmte Gouverneure der nördlichen Provinzen als Mittel der Oppositionspolitik die Scharia eingeführt. Damit relativieren sie zum einen Gesetze der Zentralregierung und zum anderen nehmen sie damit die christlichen Bürger in ihrem Gliedstaat als Geiseln. Faktisch ist es so, dass in vielen muslimischen Staaten im Norden Christen benachteiligt werden. Dies hat nicht mal religiöse, sondern vor allem politische Gründe: Sie bilden ein Pfand, aus dem eine Gegenmacht zum christlichen Präsidenten konstruiert wurde.
Das macht die heutige Lage so kompliziert: Nach acht Jahren mit einem christlichen Präsidenten wurde ein muslimischer eingesetzt. Der ist nun schon wieder gestorben und durch seinen Vizepräsidenten Jonathan Goodluck ersetzt worden, einen christlichen Ibo aus dem Nigerdelta. Dies wird nicht zur Entschärfung der Konflikte im Norden beitragen. Zusätzliches Gefahrenpotential entsteht schliesslich dadurch, dass all diese drei zunächst sehr unterschiedlich gelagerten Konflikte von den Verantwortlichen nicht oder nur sehr unzureichend angegangen werden: sei es aus Unfähigkeit oder aus politischem Kalkül heraus. Damit wird nicht nur einer weiteren Eskalation der Gewalt Vorschub geleistet, sondern verschiedenen Akteuren auch die Möglichkeit geboten, die verschiedenen Konflikte miteinander zu verbinden und in noch höherem Masse als bislang für ihre Zwecke zu instrumentalisieren: zum Beispiel die Einbindung der islamistischen Sekte Boko Haram durch nigerianische Politiker sowohl in den Wahlkampf als auch in den Konflikt in Jos, oder die offenbar zwischenzeitlich geknüpfte Verbindung zum Al-Qaida-Netzwerk, dem vom FBI die beiden Bomben in Abuja zugeschrieben werden. Jetzt stehen die Präsidentschaftswahlen an, und ich glaube nicht, dass diese Zeit ohne erneutes Blutvergiessen einher gehen wird. Das macht mich tieftraurig, aber auch zornig.

Was kann man all diesen Faktoren des Konflikts überhaupt entgegensetzen?
Es gibt zwei sich scheinbar widersprechende Dynamiken: Eine des zunehmenden Misstrauens zwischen Christen und Muslimen, das sich beispielsweise in Jos in der Bewaffnung und dem Rückzug in die eigenen Quartiere ausdrückt. Die Religion ist eigentlich ein fast zufälliges Identifikationsmerkmal, trotzdem wird die Situation als interreligiöser Konflikt bezeichnet. Ich stelle mir das wie eine Gerölllawine vor, ausgelöst durch einen Stein. Dieser Stein wird nie gestoppt, weil die Politiker den Konflikt für ihre partikularen Interessen und zur Stärkung ihrer Seilschaften nutzen. Es hat zum Beispiel in Jos nie eine Suche nach Ursachen gegeben, geschweige denn eine Verfolgung der Täter oder gar eine Entschädigung der Opfer. Wenn jemand mein Haus niedergebrannt und meine  Familie umgebracht hat, und es wird nicht anerkannt, dass da Unrecht geschehen ist, dann nehmen diese ganzen Rachgefühle und Verletzungen, Zorn und Angst ständig zu. Dann rollen diese ganzen Gefühle den Berg runter und reissen wieder andere Steine mit. Damit lädt sich der Konflikt mehr und mehr auf und wird immer unkontrollierbarer.

Aber es gibt auch eine andere, gegenläufige Dynamik: Wenn wir zurückkehren zu den Geschehnissen in Maiduguri 2009, so wirkten diese wie ein Weckruf in der grossen gemässigten Mehrheit innerhalb der islamischen Gemeinschaft. Zum ersten Mal wurde sichtbar, dass sich Angriffe letztlich gegen das gesamte Gemeinwesen richteten, gegen Christen wie Muslime. Und es ist die klar überwiegende Mehrheit der Muslime, die sich sagt: "Wir wollen diese Radikalen nicht mehr in unseren Moscheen, sie sind nicht Teil von uns. Wir wollen friedlich zusammen leben, wie wir das früher taten." Damit entstand eine Verbindung zu den friedliebenden Christen und zu unserer Partnerkirche. Als es in Maiduguri 2009 zu den gewalttätigen Ausschreitungen kam, sind in Mubi Muslime und Christen gemeinsam vor den Moscheen und Kirchen patrouilliert, um klar zu verstehen zu geben: "Wenn ihr (Boko Haram) hier angreift, greift ihr uns an."

Das gibt Hoffnung!
In Mubi und überall in Nigeria wächst eine Zivilgesellschaft heran, die immer nachdrücklicher und kritischer das hohe Mass and Korruption, Polizeiwillkür und die Gewalt des Militärs anklagt und sich zunehmend Gehör verschafft.

Die Autorin Susy Greuter ist Sozialanthropologin mit langjähriger Afrikaerfahrung und Mitglied des Afrika Komitees. Dieser Beitrag ist eine durch Jochen Kirsch aktualisierte Fassung des Interviews, das im afrika bulletin Nr. 140  vom November/Dezember 2010 erschien. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.
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Vielschichtige Antworten auf vielschichtige Probleme
Jochen Kirsch, Programmverantwortlicher für Afrika, macht es deutlich: Einfache Schuldzuweisungen und Polarisierungen wie das Label "Christenverfolgung" treffen weder den Kern der Sache noch helfen sie den Tausenden Menschen in Nigeria, die aktuell von Verfolgung und Gewalt betroffen sind: Christen wie Muslimen. Vielmehr erfordert die Komplexität und Vielschichtigkeit der verschiedenen Konflikte, die hier nur angedeutet werden kann, eine ebenso vielschichtige Antwort, die die verschiedenen Ebenen und Wurzeln der Konflikte anzugehen hat: etwa die nachhaltige Sicherung von Lebensgrundlagen, der gleichberechtigte Zugang zu Ressourcen wie Wasser und fruchtbarem Boden, Bildung und Gesundheit, Armutsbekämpfung, Förderung von Frauen, Menschenrechtsarbeit, gute Regierungsführung und Kampf gegen Korruption.
Im Rahmen des Projekts "Religion in Freiheit und Würde" versucht mission 21 dazu nach Kräften beizutragen.
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