Spätherbst in L‘Oudaya, einer Kleinstadt in der Nähe von Marrakesch. Es ist ein schöner Tag bei warmen Temperaturen. Etwas abseits der vielbefahrenen Hauptstrasse, wo die Menschen ihrem Alltag nachgehen, Autos, Mopeds und Eselkarren sich kreuzen, steht ein unscheinbares Haus mit blauer Tür. Aus dem Inneren hört man wenig, alles ist ruhig.
Als die Tür aufgeht und wir hinein gehen, sind wir im Flur des zweistöckigen Hauses, in dem sich rund 30 Personen aufhalten, ausschliesslich Frauen und Kinder. Wir sind in einem Frauen­haus, wo Frauen in Not unterstützt werden und sie den Halt bekommen, den sie ausserhalb dieses Hauses verloren haben. Das Frauenhaus wird von der Partnerorganisation des cfd, der Association El Amane pour le Développement de la Femme – kurz El Amane – geführt.

Ursachen der Not

Viele der vierzehn Bewohnerinnen kommen aus Beziehungen, die von Gewalt geprägt sind. Mehr als die Hälfte der Bewohnerinnen sind ledige Mütter, sechs Frauen sind schwanger und werden ihr Kind unter ärztlicher Aufsicht in der nahen Klinik zur Welt bringen. Wird eine unverheiratete Frau in Marokko schwanger – sei es aus Unwissen, nach einer Vergewaltigung, oder einer heimlichen Liebesbeziehung – wird sie von ihrer Familie oft verstossen oder läuft aus Scham selber weg.
Bis vor wenigen Jahren war ein uneheliches Kind auf Lebzeiten als solches erkennbar und damit stigmatisiert. Nach islamischem Brauch bekommt ein Kind den Namen des Vaters hinter seinen Namen gestellt. Da ein uneheliches Kind offiziell keinen Vater hat, stand auf seiner Identitätskarte der Name der Mutter hinter seinem eigenen Namen. Somit wurde es sofort als unehelich erkannt und seine Möglichkeiten im Leben drastisch eingeschränkt, beispielsweise bei Ausbildungs­möglich­keiten und bei der Arbeitssuche. "Heute hat sich diese Praxis glücklicherweise geändert – auch auf Drängen von vielen marokkanischen Menschenrechts- und Frauenrechtsorgani­sa­tionen, wie El Amane. Die Kinder bekommen heute vom Richter bei der Registrierung den Namen eines fiktiven Vaters zugesprochen", sagt Najat Oulami, Juristin und Direktorin des Frauenhauses.

Zuhause im Frauenhaus

Im zweiten Stock des Frauenhauses befindet sich das Reich der Kleinkinder. Aktuell wohnen acht Kinder hier, sie sind zwischen zwei Wochen und sechs Jahren alt. Ein kleines Mädchen namens Khawla lebt schon fast ihr ganzes Leben hier. Sie kennt nichts anderes als dieses Haus und seine Bewohnerinnen, welche für sie eine Familie darstellen. Ihre Mutter Wardia Toumi * kam in einem psychisch sehr labilen Zustand nach L‘Oudaya. Als Dienstmädchen wurde sie vom Sohn ihres Arbeitgebers vergewaltigt und danach von dessen Familie verstossen, als diese die Schwangerschaft bemerkte. Nach einer schwierigen Kindheit in sehr instabilen Verhältnissen und ohne jede schulische Bildung, plagten Wardia Toumi schwere suizidale Gedanken und sie sah keinen Sinn mehr in ihrem Leben. Ihre Schwangerschaft konnte zu Beginn nichts an dieser Situation ändern. Durch die psychologische Unterstützung vor und nach der Geburt im Frauenhaus und durch die Geburt ihrer Tochter, hat sich ihr seelischer Zustand sichtlich verbessert. Heute ist sie stolz, die Mutter von Khawla zu sein. Sie wünscht sich, zusammen mit ihrer Tochter ein selbständiges Leben führen zu können, auch ausserhalb der schützenden Mauern ihres momentanen Zuhauses.

Kinderrechte und Kinderschutz

Die Geschichte von Khawla und ihrer Mutter klingt aussergewöhnlich, ist aber keine Ausnahme in Marokko. "Die meisten Frauen kommen sehr verzweifelt zu uns, oft sind sie voller Scham und trauen sich sehr wenig zu. Unsere Aufgabe ist es dann an erster Stelle, sie zu stabilisieren und ihnen das Gefühl zurück zu geben, dass sie Menschen sind, die Respekt verdient haben. Die Beziehung von der Mutter zum Kind kann auch sehr dazu verhelfen, sich wieder stärker zu fühlen und etwas Wertvolles im Leben zu sein und zu haben", so Najat Oulami. Gerade weil diese Kinder oft einen schweren Start ins Leben haben, müssen sie und ihre Rechte geschützt werden. Dafür sorgt Najat Oulami mit ihren Mitarbeiterinnen. Das Ziel ist es, dieses Bewusstsein weiter auszubauen und dafür zu sensibilisieren. Im Frauenhaus leben oft fast gleich viele Kinder wie Frauen. Daher sind der Kinderschutz und Kinderrechte wichtige Themen. Im Herbst des letzten Jahres hat der cfd für die Mitarbeiterinnen von El Amane einen Workshop dazu organisiert, geführt von einer erfahrenen marokkanischen Kinderärztin und ehemaligen Direktorin eines Kinderheims für Strassenkinder. Das Frauenhaus ermöglicht mit seinen motivierten Mitarbeiterinnen trotz der knappen Ressourcen und Platzverhältnisse sehr viel. Die Betreuerinnen der Kinder arbeiten mit grossem Engagement und pflegen einen liebevollen Umgang. Auch das Spielen kommt nicht zu kurz, auch wenn es nicht so viel Platz dafür gibt. Umso mehr möchte Najat Oulami ihrem Team einen vertieften Zugang zum Thema Kinderschutz und Kleinkind-Erziehung ermöglichen, um ihre Arbeit stetig zu verbessern und die Wichtigkeit eines adäquaten Umgangs mit den Kindern zu unterstreichen.
Daher wird in Zusammenarbeit mit dem cfd eine Weiterbildung für die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses, insbesondere für die Erzieherinnen und je nach Bedarf für die Mütter in den Bereichen Ernährung, Hygiene, Erziehung und Psychomotorik angeboten.
Dank der psychologischen Betreuung im Frauenhaus und der medizinischen und sozialen Beratung durch die Mitarbeiterinnen von El Amane hat die Mutter von Khawla viel über sich selbst erfahren. Sie entwickelte sich trotz ihrer schwierigen Ausgangslage zu einer gestärkten, selbstbewussten Frau. Ihre Tochter Khawla soll auch einmal eine starke und selbstbewusste Frau werden, die eine Chance auf ein besseres Leben hat. Das wünscht sich Wardia Toumi. "Und ich will für uns alleine sorgen können. Hier im Frauenhaus habe ich erlebt, dass dies möglich ist, weil wir uns gegenseitig unterstützen. Dafür bin ich sehr dankbar", sagt sie. Die Berufsbildungs-Kurse und die Begleitung im Frauenhaus bringen sie ihrem Ziel näher, ein eigenständiges Leben zu führen.

Der Weg ist noch lang

Das gegenseitige Vertrauen zwischen dem cfd und seiner Partnerorganisation El Amane ermöglicht einen fruchtbaren Dialog zwischen den beiden Organisationen. So können Bedürfnisse und Veränderungen in den Projekten offen und transparent diskutiert werden. Das Thema Kleinkinder und ihre Rechte steht schon länger im Fokus unserer Diskussionen mit El Amane und wir freuen uns, dass die systematischere Arbeit und professionelle Betreuung der Kinder im Frauenhaus auch unserer Partnerorganisation am Herzen liegt. Im neuen Jahr werden die Mitarbeiterinnen Weiterbildungen in diesem Bereich machen.
Das Bedürfnis nach einem Schutzraum für Frauen und Kinder in Marokko ist auch heute noch gross. Eine gesellschaftliche Veränderung dahin, dass sich ledige Mütter oder vor Gewalt fliehende Frauen nicht mehr verstecken müssen, braucht noch viel Zeit, Geduld und den Einsatz von engagierten Frauenorganisationen wie El Amane.
* Namen von der Redaktion geändert