Welches Buch führt dich auf die schönste Reise?

"Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann" von Franz Buggle. Der emeritierte Professor für Entwicklungspsychologie bewegte vor zwanzig Jahren mit diesem Buch Gläubige wie Ungläubige. Darin analysiert er akribisch die Bibel und ihre Widersprüche: Barmherzigkeit und Nächstenliebe auf der einen und Gräueltaten und Gewaltaufrufe auf der anderen Seite. Er listet 600 Gewaltanwendungen und göttliche und andere Aufrufe zur Gewalt auf, um zu zeigen, dass die Bibel "in ihren zentralen Teilen ein gewalttätig-inhumanes Buch" ist, welches sämtliche Mindeststandards einer "heute verantwortbaren Ethik" unterschreitet. Buggle wollte dieses Jahr ein Nachfolgewerk veröffentlichen und ist leider Ende Januar verstorben. Aber das Buch macht deutlich: Es ist höchste Zeit, sich mit der christlichen Tradition auseinanderzusetzen.

Wer soll sich damit auseinandersetzen?

Die Gesellschaft, die Gläubigen, die Kirchen. Wir sind in unserer Gesellschaft geprägt vom Christentum, auch wenn die Kirchenaustritte sich häufen. Es ist unsere traditionelle soziale und politische Grundlage. Die sollten wir aufarbeiten. Von den Deutschen erwartet man die Aufarbeitung des Holocaust, von den Türken die Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern, aber der Vatikan weigert sich teilweise bis heute, seine Archive zu öffnen, um die Position der Kirchen im Dritten Reich untersuchen zu lassen. Auch Diktatoren müssen sich vor internationalen Tribunalen verantworten. Das müsste auch die Kirche tun, einmal in Bezug zu ihrer Vergangenheit mit Kreuzzügen und Hexenprozessen und anderem, aber auch in Bezug auf die Gegenwart: Welchen Stellenwert haben das gewaltstrotzende Alte Testament oder die Gewaltaufrufe im Neuen Testament in der heutigen Kirche? Der Vatikan äussert sich nicht zu solch zentralen Glaubensfragen.

Erleben wir heute eine Gegenreaktion, einen sogenannten Backlash, zur Aufklärung?

Ganz eindeutig. Aufklärung ist in den traditionalistischen katholischen Kreisen und noch viel mehr in den Freikirchen ein Schimpfwort geworden. Aber der Backlash geht weit in die Gesellschaft hinein. Viele sehen die Aufklärung nur noch als Unfall der Geschichte, und Begriffe wie "Humanismus" oder "Aufklärung" werden etwa auf die gleiche Stufe gestellt wie die Achtundsechziger Bewegung.

Zurzeit floriert der Tourismus zum Kulturerbe der Maya, weil die Leute die Quelle der Prophezeiung noch vor dem prophezeiten Weltuntergang besuchen wollen. Gehört diese Endzeithysterie auch zur antiaufklärerischen Bewegung?

Ja, aber diese Endzeitmythen haben auch ganz klar eine wirtschaftliche Komponente. Da werden Bunker und Archen verkauft, im Kino laufen Filme wie "2012" von Roland Emmerich, in den Buchläden stehen ganze Bücherregale zu den Endzeitmythen, im Google werden auf die Suchabfrage "Ende der Welt 2012" zwei Milliarden Seiten angezeigt. Die Apokalyptiker fiebern mit erhöhtem Puls dem Ende entgegen. Ich versuche in meinem jüngstes Buch "Im Bann des Maya-Kalenders. Endzeithysterie in Sekten und Esoterik" (erscheint im Mai im Gütersloh-Verlag) aufzuzeigen, dass die verschiedenen Theorien vom Ende der Welt wissenschaftlich nicht haltbar sind. Weder weist das Ende des Mayazyklus auf das Ende der Welt hin, noch gibt es den Nibiru- oder Planeten X, noch sind eine sprunghafte Polverschiebung oder besonders zerstörerische Sonnenstürme zu erwarten. Es sind reine, von den Astronomen widerlegte Spekulationen. Aber die Apokalyptiker – oft finanzstarke Organisationen – sind gerne auch Verschwörungstheoretiker und erklären, die Astronomen würden einfach nicht die Wahrheit sagen.

Was sagen die Maya zum ganzen Hype?

Für die heutigen Maya interessiert sich kaum jemand, und die Maya interessiert dieser Kalender wenig. Sie sind unterdrückte Bauern und wissen wenig von ihren Vorfahren. Die Spanier und die christlichen Missionare haben auch alles bis auf vier Kodizes zerstört.

Was heisst für dich fair unterwegs sein?

Fair unterwegs sein heisst für mich, so pfleglich wie möglich mit Natur und Energieverbrauch umzugehen. Meinen Bedürfnissen nach Bewegung und Sport begegne ich mit möglichst sanfter Mobilität. Aber zum Schluss steige ich für die Arbeit und die Ferien trotzdem ins Flugzeug. Ich reise einmal jährlich Richtung Asien.
Einmal dort nutze ich die öffentlichen Verkehrsmittel. Jeder Franken ausser den Flugkosten kommt bei der Art, wie ich reise, dem Land zugute. Die Kehrseite davon ist, dass ich so manchmal in Gebiete komme, wo ich mich frage, was ich als Tourist dort zu suchen habe. Ich verhalte mich so diskret wie möglich, versuche die Leute, die noch ihre ursprüngliche Lebensweise bewahrt haben, nicht zu stören.

Du entlarvst Mythen und Religionen als Flucht vor dem Alltag. Sind Ferien nicht ebenso eine Flucht?

Für mich sind sie eine Flucht vor dem Luxus. Ich finde es erholsam, in einem kleinen schmutzigen Zimmer zu übernachten und mit sieben Kilogramm Gepäck am Rücken weiterzuziehen. Ohne die Belastung der Überzivilisiertheit mit dem ganzen Schischi. Der Tapetenwechsel hat etwas Wohltuendes. Wo ich hingehe, habe ich wenig Berührung zur alten Welt. Ich reduziere, was ich brauche, aufs Minimum. Ich bevorzuge Länder wie Indien, Kambodscha, Laos, Burma und Vietnam, die noch nicht so vom westlichen Konsummüll zugedröhnt sind wie Thailand oder die Philippinen.
Ich erlebe die Leute als sehr herzlich. Das Reisen ist einfach: Es gibt gute Zugs- oder Busverbindungen und man findet immer Zimmer und etwas zu essen. Die kleinen, schönen Begegnungen mit den Einheimischen geniesse ich, bilde mir aber nicht ein, es handle sich um eine "Begegnung auf gleicher Augenhöhe". Ich erhebe nicht den Anspruch, die Leute zu verstehen, aber ich versuche, mich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Hat für dich der Konsumwahn mit der anti-aufklärerischen Bewegung etwas zu tun?

Sicher. Auf der einen Seite hat das Individuum eine unglaubliche Anspruchshaltung und Konsummentalität entwickelt: Ich habe Anspruch, reich zu sein, keine Probleme zu haben, und wenn doch, sie sofort den Fachleuten zu überantworten. Auf der anderen Seite werden Menschen ausgebeutet und dann mit Links entlassen. Das Individuum ist weniger Wert. Das führt zu einer emotionalen Regression, alles wird nach dem Konsumwert eingeschätzt: greifen, packen, haben. Viele vergessen dabei, dass Lebensqualität nur bedingt mit Konsum zu tun hat, sondern vielmehr mit sozialen Bindungen.
Es braucht eine Rückbesinnung auf andere Werte, die Einsicht, dass Glück nicht konsumierbar ist. Glück kommt weder durch religiöse und esoterische Heilsversprechungen, noch durch Konsum, sondern man muss es aus sich selbst heraus erarbeiten. Die einfachen Dinge im Alltag suchen. Sich Zeit lassen.

Du bist ein langjähriges Mitglied des arbeitskreises tourismus & entwicklung. Was hältst du vom Reiseportal fairunterwegs.org?

Mir sind alle Institutionen sympathisch, die den Kampf gegen Windmühlen aufnehmen. Dass man bewusster reist, die eigene Rolle kritisch hinterfragt. Jede Entwicklung beginnt bei der Veränderung des Bewusstseins. Man kann die Welt nicht von heute auf morgen auf den Kopf stellen. Aber die Wirkung ist langfristig da. Eure kritische Stimme hat schon einiges bewirkt, bei den Reisenden wie bei den Reiseveranstaltern. Mir gefällt bei fairunterwegs.org, dass ihr auf den moralischen Zeigefinger verzichtet und man euch nicht in irgendeine Fundi-Ecke drängen kann. Ihr kommuniziert bestimmt, klar und diskret, mit Wissen und fachlich sauber. Es freut mich, dass ihr nach 35 Jahren immer noch mit Engagement dranbleibt.
Lesen Sie auch:Weltuntergangsprophezeiung soll Touristen zu Maya-Pyramiden locken (vom 21.03.2012)
Franz Buggle: Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann. Eine Streitschrift, Alibri Verlag, 2012 (überarbeitete Auflage), 463 Seiten, CHF 34.50 / EUR 24 (Richtpreis), ISBN 3-86569-077-7