Welches Buch entführt Dich auf die schönste Reise?

Ich weiss nicht, ob man es die schönste Reise nennen kann. Aber das Buch Kosova- Schweiz führt mich zurück in die Jahre 1964 bis 2000. Das Jahr 1964 markiert für mich das Ende meiner Tourismuskarriere bei der Schweizerischen Verkehrszentrale, mit dem Pavillon an der Expo, und meinen migrationspolitischen Einstieg in der evangelischen Bildungsstätte Boldern, wo ich meine gesellschaftspolitischen Anliegen und Erfahrungen erwachsenenbildnerisch umsetzen konnte. Touristisch war es die Zeit, als AmerikanerInnen durch Europa rasten und auf die Uhr schauten, um zu wissen, wo sie sich gerade befanden. Es ist für mich eine Art Zeitreise auch zurück in mein Leben und meine Engagements.

Wovon handelt das Buch?

Kosovarinnen und Kosovaren verschiedener Generationen mit unterschiedlichen Formen des ursprünglichen Einreisestatus erzählen ihre Geschichte. Zum Teil sind ganze Familien porträtiert. Im Ablauf der Zeit werden die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Migration dargestellt. Es gab verschiedene Generationen von Einwanderern: Da waren zunächst die jugoslawischen Saisonniers, die völlig unbemerkt blieben, weil von Integration gar keine Rede war. Sie sollten ja nach ein paar Monaten wieder gehen. Viele blieben aber. Dass sie nicht Serbokroatisch sprachen, sondern Albanisch, merkte kaum jemand. Anfangs kamen nur Männer, sie arbeiteten im Baugewerbe, später auch im Gastgewerbe, und unterstützten mit ihrem Lohn die Grossfamilie in Kosova (Kosovo ist der serbische Name): Frau, Kinder, Eltern und Brüder.
Saisonarbeiter, die vier Mal neun Monate in aufeinander folgenden Jahren in der Schweiz gearbeitet hatten, konnten eine Jahresbewilligung erhalten. Das hing vom Arbeitgeber ab, den die Saisonarbeiter nicht wechseln durften. (Doch die Tourismusindustrie war an Jahresaufenthaltern mit mehr Rechten wenig interessiert und machte lieber Verträge über weniger als neun Monate.) Jahresaufenthalter konnten Frau und Kinder nachziehen. Darauf verzichteten aber viele, auch aus wirtschaftlichen Gründen, bis die Situation in Kosova unhaltbar geworden war.
Nach dem Tod Titos 1981 begann der wirtschaftliche und politische Zerfall Jugoslawiens; als Milosevic Präsident von Serbien wurde, hob er die Teilautonomie von Kosova auf und verbot Schulunterricht in albanischer Sprache. Die albanischen Lehrkräfte und Beamten wurden durch serbische ersetzt. Die Situation in Kosova wurde so aussichtslos, dass nun viele Kosovaren ihre Frau und ihre Kinder in die Schweiz holten. Ein brutaler Einschnitt in der Geschichte der Einwanderung aus Kosova war dann der Beschluss von Bundesrat Koller, dass die Schweiz ab 1992 keine neuen jugoslawischen Saisonniers mehr wolle. Die bisherigen Saisonniers konnten während einer Übergangszeit weiter arbeiten.
So kamen in den Jahren nach 1992 nicht mehr Arbeiter aus Kosova in die Schweiz, sondern viele Frauen und Kinder. Die Kinder, die in Kosova keine albanische Schule besuchen konnten, hatten mangelhafte Sprachkenntnisse. Auch im Albanischen gibt es eine Standardsprache, die sich vom kosovarischen Albanisch unterscheidet. Es ist etwa so, wie wenn ein Kind nur gerade schweizerdeutsch spricht und versteht – ihm wird der Schulbesuch Mühe machen. Darum ist es so wichtig, dass der deutschsprachige Schulunterricht in unsern Schulen durch Muttersprach-Unterricht ergänzt und unterstützt wird.

Und dann kam der Krieg.

Ja, in den Jahren der Unruhen und Konflikte bis zum Ausbruch des offenen Kriegs 1998 kamen dann viele Kosovaren als Flüchtlinge in die Schweiz. Die Einreisebestimmungen wurden aber derart verschärft, dass es immer schwieriger wurde, legal einzureisen. Während des Kriegs 1998/99, als fast die Hälfte der Bevölkerung gewaltsam aus Kosova vertrieben wurde, fanden dann viele Flüchtlinge vorübergehend bei ihren Verwandten in der Schweiz Zuflucht. Unvergesslich bleibt das Bild von Ruth Dreifuss, wie sie nach einem Besuch in mazedonischen Flüchtlingslagern auf ihrem Rückflug in die Schweiz kurz entschlossen zwanzig Flüchtlinge in ihrem Flugzeug mitfliegen liess. Die andere Bundesrätin, Ruth Metzler, verkündete aber sofort nach dem Krieg über alle Medien, dass sämtliche Jugoslawen – sie unterschied nicht zwischen den Kriegsflüchtlingen und den schon lange in der Schweiz Ansässigen – nach Hause zurückgeschickt würden, sobald der Krieg vorbei sei. Und  sie wiederholte das so lange, bis das Volk es glaubte.

Was verbindest Du aus Deinem Leben mit dieser Geschichte?

1999 wurde in Basel die Albanische Volkshochschule gegründet. Sie hielt sich bis 2003. Sie entstand auf Initiative von Migranten, die den Neuankömmlingen die Integration erleichtern und interessierten Schweizern die albanische Sprache und Kultur nahe bringen wollten. Sie orientierten sich an der Université Populaire Albanaise in Genf, die der heutige Präsident der Grünen, Ueli Leuenberger, 1996 gegründet und bis 2002 geleitet hat. In Genf unterstützten und unterstützen Stadt und Kanton das Projekt, in Basel blieben die Migranten weitgehend auf sich selber gestellt, zusammen mit wenigen Schweizern. Ich war im Vorstand und nahm auch an einem Albanischkurs teil, der mich immerhin soweit brachte, dass ich das albanische Märchenbuch „Prinzessin Ardita“ lesen konnte. Eine Gruppe von SchweizerInnen reiste auch nach Kosova, Mazedonien und Albanien, mit einer Leiterin, die mehrere Jahre dort gearbeitet hatte. Wir konnten mit vielen Leuten sprechen, z.B. mit einem Ladenbesitzer, der lange Jahre als Kellner in der Schweiz gearbeitet hatte und nach dem Krieg mit seinen Ersparnissen und seinem Altersguthaben nach Pristina zurückgegangen war. Er hatte inzwischen sein ganzes Geld aufgebraucht und infolge der grossen Arbeitslosigkeit lief das Geschäft nicht. Er wollte zurück in die Schweiz und versuchte ein Visum zu erhalten. Ich weiss nicht, was aus ihm geworden ist. Vielleicht lebt und arbeitet er heute als Sans-Papier in der Schweiz. Über die zwei Länder spannt sich ein Beziehungsnetz: Viele fühlen sich nicht nur in Kosova oder in der Schweiz zu Hause, sondern an beiden Orten. Hier haben sie ihre Kinder und ihre Arbeit  – mit oder ohne Bewilligung. Dort haben sie Land, Geschwister, Eltern.

Manche SchweizerInnen stossen sich am aggressiven Verhalten einiger jugendlicher Kosova-Albaner. Gibt das Buch eine Begründung für dieses Verhalten?

Es ist schwierig, das allgemein zu beantworten. Häufig sind das Jugendliche, die als Halbwüchsige in die Schweiz kamen. Manche sind nicht mehr in der albanischen und noch nicht in der Schweizer Kultur beheimatet. Sie suchen ihr eigenes System, um sich gegenüber Gleichaltrigen oder Autoritätspersonen zu behaupten. Die Behörden haben es in den 90er-Jahren auch darauf angelegt, die Asylsuchenden möglichst dorthin zu schicken, wo sie am wenigsten Anschluss finden. So kam zum Beispiel ein Französischlehrer aus Pristina als Asylsuchender in die Schweiz. Er wurde nicht in die Romandie gewiesen, sondern in die Ostschweiz.

Wie steht es heute mit Deinem Engagement?

Ich pflege heute noch die Kontakte, etwa zu Solidarité sans frontières, der Anlaufstelle für Sans-Papiers, dem Solidaritätsnetz Basel, dem Kulturzentrum Union oder dem Verein VITA, aber  ich habe mich altershalber aus der aktiven Arbeit zurückgezogen.

Du bist doch als Studienleiter in Boldern von 1965-1975, als Beauftragter für Oekumene, Mission und Entwicklungszusammenarbeit (OeME) der reformierten Kirche des Kantons Aargau von 1975-1988 und als Lateinamerikabeauftragter der Basler Mission von 1988 bis 1993 verschiedentlich gereist. Wie hältst du es heute mit dem Reisen?

Heute bin ich zu alt und zu faul dazu. Früher bin ich viel in Italien, Frankreich und Deutschland gereist, auch in Osteuropa, als man deswegen in der Schweiz noch fichiert wurde. Die meisten Familienferien haben wir dann in der Schweiz verbracht, bis auf zweimal, als wir auf Wunsch der Kinder ans Meer reisten (per Bahn nach Katalonien). Später sind wir wenig touristisch gereist, sondern zum Besuch von Partnern und Freunden in Afrika, Lateinamerika und Südkorea. Aus diesen Reisen ist immer viel für die Arbeit in der Schweiz zurückgekommen. Insofern waren die Reisen zumindest für mich nachhaltig.

Immerhin bist du Gründungsmitglied des arbeitskreises tourismus & entwicklung

Der Arbeitskreis ist ja aus der Erklärung von Bern entstanden, in der ich aktiv war, und weil ich früher im Tourismus gearbeitet hatte, machte ich von der Gründung bis 1987 im Vorstand des Arbeitskreises mit, auch als Kontaktperson der OeME-Beauftragten. Heute hat für mich das Engagement für den Arbeitskreis etwas nostalgischen Charakter. Was noch an gedrucktem Material kommt, lese ich, aber aufs Netz gehe ich kaum. Das ist mir zu kompliziert. Deshalb bekomme ich nicht mehr so viele Informationen.

Du warst in verschiedenen Zusammenhängen fair unterwegs. Was heisst fair unterwegs sein für Dich im Tourismus?

Für mich steht dabei heute nicht das Wirtschaftliche im Vordergrund, sondern Zeit zu haben. Das Verlangsamen des Reisens. Das ist ja wohl auch eine Alterserscheinung, dass ich mir für alles mehr Zeit nehme. Aber ich wünschte mir, das Engagement des Arbeitskreises führe dazu, dass mehr Leute bewusster reisen. Dass Veranstalter und Reisende sich überlegen, was sie tun, und dies weniger atemlos tun.
Hans-Peter von Aarburg; Sarah Barbara Gretler: Kosova-Schweiz. Die albanische Arbeits- und Asylmigration zwischen Kosovo und der Schweiz (1964-2000); LIT-Verlag, Münster, Wien, Zürich Juni 2008 in der Reihe: Freiburger Sozialanthropologische Studien (Prof. Christin Giordano, Uni FR), Band 18. Das Albanische Institut in St. Gallen (Albert Ramaj) ist Mitherausgeber. 595 Seiten broschiert, 44 SFr, 25.90 Euro;  ISBN 978-3825813710