Ein Kaffee ist mehr als ein Kaffee: Mit den vier Franken, die ein Schweizer Espresso mittlerweile kostet, kauft man sich auch das Recht auf Teilnahme am öffentlichen Leben. Das Kaffeehaus, das Gartenbistro, die Bar – das sind Orte der sozialen Vernetzung. Der Konsum von Getränken ist oft wenig mehr als ein Vorwand, um zu lauschen und zu beobachten, sich Gedanken zu machen und abzuschweifen, Freunde und Fremde zu treffen oder einfach mittendrin allein zu sein. Kaffeetrinken kann man auch zuhause, sofern man eines hat. Im Café hingegen wird Privates bewusst öffentlich gelebt. Das Café ist ein Ort, an dem Gesellschaft greifbar wird – und meist ein Ort mit Konsumationszwang. Der Espresso am Tresen ist die Eintrittskarte dazu. Wer bezahlt, ist drin. Und einmal drin, sind alle gleich. Sitzen teure Anzüge neben Jeans und Kapuzenpullis. Wer nicht bezahlen kann, bleibt draussen. Und ist nicht gleich, auch wenn das keinem auffällt. Niemand merkt, wenn einer nicht ins Café geht.
Ein Kaffee für vier, fünf Franken: Für die meisten ist es nicht mehr als eine alltägliche Nebensächlichkeit. Andere drehen jeden der vier Franken zweimal um und sparen sie sich woanders ab. Die meisten und die anderen zusammenzubringen – das ist der Gedanke hinter einem "Caffè sospeso". Wie vieles, was gut ist, kommt dieser im wörtlichen Sinn "aufgehängte" oder "aufgeschobene" Kaffee aus dem tiefen Süden Italiens. Seit über hundert Jahren kennt man in den Kaffeehäusern Neapels den Sospeso: Wer es sich leisten kann und in Spendierlaune ist, bezahlt einen oder zwei Kaffees mehr, als er trinkt. Der Barista verbucht die "Aufgeschobenen" – meist macht er mit Kreide Striche an einer dafür vorgesehenen Wandtafel oder sammelt die Kassenbons in einem Glas – und serviert sie später jemandem, der den Besuch im Café eigentlich nicht vermag. Niederschwellig und vor allem diskret bringt der Sospeso Spender und Empfänger zusammen.
Was Anfang des 20. Jahrhunderts fester Bestandteil des sozialen Lebens in Neapel war, verkam im Laufe der Jahrzehnte zur folkloristischen Tradition, praktiziert nur noch von den Bewohnern der Altstadt und zu Weihnachten. Seit ein paar Jahren feiert der Sospeso allerdings ein Comeback: In wirtschaftlich schweren Zeiten macht diese kleine Geste einen grossen Unterschied.

Wienerisch-charmant

Die Idee des aufgeschobenen Kaffees hat sich im Zuge der Wirtschaftskrise über ihren Ursprungsort in Süditalien hinaus verbreitet. In Spanien, ebenfalls hart von der Krise getroffen, gibt es bereits "Bocadillos pendientes", also aufgeschobene Sandwiches. Befeuert durch die sozialen Medien ist die Tradition des solidarischen Aufschiebens auch weiter gen Norden vorgerückt: Die englischsprachige Facebook-Seite "Suspended Coffees" hat mittlerweile über 265’000 Anhänger. In zahlreichen amerikanischen und britischen Städten sammeln Café-Angestellte hinter dem Tresen Kassenbons oder machen Striche für vorbezahlte Heissgetränke. In der Normandie gibt es neben aufgeschobenen Kaffees auch "Baguettes payées".
Der Wiener Kaffeehausbetreiber Daniel Landau sagt: "Die Welt wird man damit zwar nicht retten. Aber für mich hat die Aktion etwas Wienerisch-Charmantes, weil sie so einfach ist. Es ist eine anonymisierte Freundschaftsgeste." Wenige Wochen nach der Einführung des Sospeso in seinem Café zeigte sich Landauer beeindruckt: "Am Anfang war ich überwältigt, wie viele Gäste spenden. Dabei fordern wir nicht aktiv dazu auf. Trotzdem wird eindeutig mehr gegeben als angenommen. Etwas anzunehmen fällt vielen schwer."
Damit formuliert der Wiener ein so unerwartetes wie omnipräsentes Problem der neu entdeckten Sospeso-Kultur: In der Regel sammeln sich die Kreidestriche und Kassenzettel – und werden nicht abgeholt.
Das erscheint nur auf den ersten Blick sonderbar. Während Bedürftige in Neapel seit über hundert Jahren ins Café gehen und fragen: "C’è un sospeso?", fehlt ihnen andernorts das Wissen darüber, dass im Bistro um die Ecke der kleine alltägliche Luxus "aufgeschoben" auf sie warten könnte. Wer in der Situation ist, einen Sospeso in Anspruch nehmen zu müssen, dürfte von Facebook-Kampagnen wie "Suspended Coffees" eher wenig mitbekommen.

Café Surprise – eine Tasse Solidarität

Für Spendierer: Besuchen Sie eines der teilnehmenden Cafés in Zürich, Bern oder Basel. Sie haben die Möglichkeit, neben ihrem eigenen Kaffee eine zusätzliche Tasse zu bezahlen – und anonym einer bedürftigen Person zu spendieren. Dieser Kaffee wird auf der Strichliste notiert.
Für Geniesser: Wenn Sie ein Café-Surprise-Lokal betreten und knapp bei Kasse sind, dann fragen Sie das Personal oder schauen Sie auf der Strichliste nach, ob bereits ein kostenloser Café Surprise spendiert wurde.
Für solidarische Gastronomen: Weitere Cafés, Bars und Restaurants sind herzlich eingeladen, mitzumachen. Vor Ort erkennen Sie diese am Café-Surprise-Logo an der Tür.

Wartende Kaffees

Hier will der Verein Surprise ansetzen: Er geniesst hohes Vertrauen bei Menschen, die von Armut betroffen sind und verfügt als Institution über Kontakte zu anderen sozialen Einrichtungen. Über dieses Netzwerk können Menschen am Rand der Gesellschaft dorthin geführt werden, wo die Kaffees warten.
Zum Start des Projektes "Café Surprise" haben sich acht Cafés und Restaurants in Bern, Zürich und Basel mit dem Verein Surprise zusammengetan.
Zum Beispiel die Post Bar, unweit der Johanniterbrücke, die von der St. Johanns-Vorstadt ins Kleinbasel führt. In der Zwischennutzung in einem ausgedienten Postamt hängt schon seit Längerem eine Schiefertafel, auf der das Personal spendierte Kaffees mit Kreidestrichen notiert. Bloss: Abgeholt wurden die Basler Aufgeschobenen bisher nur selten. Von der Kooperation mit dem Verein Surprise erhoffen sich die Macherinnen und Macher der Post Bar nun, dass die Aufgeschobenen in Zukunft auch abgeholt werden.
Auch in der Brasserie Lorraine ist Solidarität nichts Neues. Die Berner Kollektivbeiz hat schon früher spontane Aktionen durchgeführt, die in diese Richtung gingen. So bekamen zum Beispiel frisch entlassene Bauarbeiter in der "Brass" ein Gratis-Mittagessen. "Wir fanden die Idee des aufgeschobenen Kaffees nobel", sagt ein Kollektivmitglied. "Man kann etwas spenden, ohne in Erscheinung zu treten." Und das noble Prinzip, dass in der "Brass" kein Konsumzwang herrscht, wird um eine Dimension erweitert: Wer es sich nicht leisten kann, hat nicht nur keine Verpflichtung, etwas zu bestellen – er kann nun sogar seinen Kaffee trinken, wie jeder andere auch.