Tourismus ist einer der Wirtschaftszweige, in denen besonders viele Frauen beschäftigt sind. Die Branchenführer loben den Tourismus als Beschäftigungsmotor für Frauen, weil er Jobs biete, bei denen sich Beruf und Familie vereinbaren liessen. Carla Izcara Conde, Mitarbeiterin der Forschergemeinschaft Alb Sud in Barcelona, steht diesen Versprechen skeptisch gegenüber. Vielmehr scheinen neuere Forschungen darauf hinzuweisen, dass die Tourismusindustrie die systematische Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ausnutzt und in den meisten Fällen fortsetzt, erklärte Izcara an dem von fairunterwegs und respect_NFI gemeinsam organisierten Podium vom 27. Mai 2021 zum Thema “Herrliche Aussichten? – Frauen im Tourismus zwischen Chance und Ausbeutung”

30-jähriger Schweizer Akademiker – alleinerziehende Migrantin aus dem Senegal

Die Angestellten im Tourismus sind nicht nur mehrheitlich weiblich, sondern arbeiten auch besonders oft in prekären Arbeitsverhältnissen, mit wenig Arbeitsplatzsicherheit, eingeschränktem sozialem Schutz oder mangelnder gesetzlicher Absicherung, beschränktem Zugang zu Sozialversicherungen und niedrigen Einkommen. Das führt zu verschiedenen Manifestationen von Geschlechterungleichheiten, die noch nicht gründlich erforscht wurden. Carla Izcara und ihre Kolleginnen haben in einer Literaturstudie 15 solche Geschlechterungleichheiten beschrieben:

  1. die Mehrfachbelastung durch gleichzeitige Care Aufgaben der Frauen,
  2. die typischen Jobzuweisungen nach Geschlecht und Rasse,
  3. die Lohndiskriminierung,
  4. die Rekrutierung über Temporärbüros und Subunternehmen,
  5. die informelle Arbeit,
  6. die "gläserne Decke" (die den Zugang zu den Geschäftsleitungs- und Verwaltungsratssitzen versperrt) und der
  7. "klebrige Boden" (der die Frauen in den unteren Chargen hält),
  8. besondere Anforderungen bei Grösse, Körperbau und Aussehen,
  9. die sexuellen Übergriffe,
  10. die soziale Abwertung und
  11. Unsichtbarkeit,
  12. die Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz,
  13. die fehlende Beachtung durch Gewerkschaften,
  14. der Widerstand von Familie und Gesellschaft gegen den Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt und
  15. die Arbeitsüberlastung in Familienbetrieben. 

Das Besondere an diesem lesenswerten Bericht mit dem Titel "Gender Inequalities in the Tourism Labour Market" ist der sogenannte "intersektionelle Ansatz" nach Kimberlé Crenshaw, einer Juristin der USA mit Schwerpunkt institutionalisiertem Rassismus und feministische Rechtstheorie. Sie verbindet die Betrachtung des Geschlechts mit anderen Kategorien wie Ethnizität, Migrationsstatus, Klasse, Alter, Bildungsstand, sexuelle Orientierung und so weiter. All diese Kategorien bestimmen, wer in unserer Gesellschaft generell und im Tourismus im Besonderen privilegiert oder diskriminiert wird.

Ein Blick durch die rosa, die Korrektur- und die schwarze Brille  

Ernest Cañada, Forscher und Koordinator von Alba Sud, hat in Mittelamerika eine Reihe von Untersuchungen analysiert, um herauszufinden, ob und inwieweit Projekte des Gemeindebasierten Tourismus (CBT) die Geschlechterbeziehungen in Richtung mehr Gleichheit verändern können. Denn bis heute besteht kein Konsens darüber, welche Auswirkungen der CBT-Tourismus auf die Geschlechterverhältnisse hat und wie der Tourismus zur Stärkung der Rolle von Frauen beitragen könnte.

Wer die rosa Brille aufsetzt, sieht im CBT das Potenzial, Geschlechtergerechtigkeit zu fördern, Frauen den Zugang zum Markt zu ermöglichen, verbunden mit einer Verbesserung ihrer sozialen Stellung und der Anerkennung ihrer Leistungen, insbesondere durch Empowerment-Prozesse beim unternehmerischen Engagement im Tourismus. Frauen können durch CBT ihr Einkommen aufbessern, autonomer werden, besser an der Gesellschaft teilhaben, Zugang zu neuen Arbeitsplätzen finden, neue Fähigkeiten erwerben und sich über Kontakte zu verschiedenen Menschen, darunter ausländischen Feriengästen, ein unterstützendes Netzwerk aufbauen. In einigen der analysierten CBT-Projekte haben Männer tatsächlich Care-Arbeiten wie Kochen, Putzen oder auf die Kinder aufpassen übernommen, während die Frauen als Tour-Guides arbeiteten oder sich stärker am Gemeinwesen beteiligten. Doch in anderen Beispielen geschah das Gegenteil: Männer reagierten auf die aufbrechenden Rollenmuster mit häuslicher Gewalt. 

Wer auf die Korrekturbrille setzt, sieht zwar das Potenzial des CBT für die Frauen, aber nur, wenn die Genderperspektive in die Tourismusplanung und die Entwicklungshilfe für CBT-Projekte einbezogen wird, um signifikante Veränderungen zu erreichen. Nur so kann sichergestellt werden, dass alle Entscheidungen den Interessen sowohl der Frauen als auch der Männer dienen. Einige Forschende unterstreichen zusätzlich die Notwendigkeit, die Genderperspektive in der nationalen und regionalen Tourismuspolitik einzubeziehen.

Wer durch die schwarze, pessimistische Brille blickt, wird argumentieren, dass die Beteiligung von Frauen an CBT die Strukturen der Ungleichheit reproduziert oder die Situation sogar verschlechtert hat. Denn Frauen übernehmen hauptsächlich Aufgaben, die als Erweiterung der Hausarbeit gesehen werden können. Wenn die Frauen zusätzlich Gäste betreuen, ohne im Haushalt oder in der Kinderbetreuung entlastet zu werden, verschlechtert sich oft ihre Lebensqualität trotz höherem Einkommen. Die Unterordnung der Frauen ist eben nicht bloss eine Frage von Ressourcen und Autonomie, sondern betrifft auch ein ideologisches System mit unerschütterlichen Regeln und Gewohnheiten. Die Unterstützung für CBT-Projekte, die von aussen kommt, reproduziert oft geschlechtsspezifische Ungleichheiten. 

Auch bei CBT genau hinschauen: Ziele? Organisation? Wer bestimmt?

Ernest Cañada kommt in seiner Analyse zum Schluss, dass sich Geschlechterverhältnisse in CBT-Projekten nicht ändern, so lange Männer in Verwaltungsstrukturen die Kontrolle haben. Und auch wenn Tourismusprojekte von einer vertrauten Einheit verwaltet werden, etwa der Familie, führt das in der Regel zu einer Zunahme der Arbeitsbelastung für die Frauen, während die Umverteilung der häuslichen Aufgaben begrenzt ist. Nur wo Frauen mit einer feministischen Perspektive für die Entwicklung und Leitung der Tourismusprojekte verantwortlich sind,  geschehen Empowerment-Prozesse  und die Transformation der Geschlechterverhältnisse häufiger.

Um herauszufinden, ob ein Tourismusprojekt Frauen zu begünstigen vermag, gilt es also, das Umfeld, die Zusammenhänge und die Organisation genau zu betrachten. Die Faktoren, die das Ergebnis für Frauen am meisten bestimmen sind: Wer mit welcher Absicht ein Tourismusprojekt initiiert, bestimmt und verwaltet. Am ehesten profitieren Frauen, wenn eine Aktivität von Anfang an mit dem Ziel geplant wurde, die Situation von Frauen durch Schaffung von Arbeitsplätzen, Teilnahme an Kursen, Beteiligung von Frauen usw. zu verbessern. 

Präsentation von Carla Izcara Conde am Event «Herrliche Aussichten» – Frauen im Tourismus zwischen Chancen und Ausbeutung